Abfahrt, Blick aus dem Zug – hinter dem Haus in der Bildmitte ist Sacre Coeur zu sehen.
Abfahrt, Blick aus dem Zug – hinter dem Haus in der Bildmitte ist Sacre Coeur zu sehen.
Die Fahrt ging dahin, die Zeit dehnte sich. Es wurde Abend, es wurde Nacht. Einen Teil der Langeweile hatten wir damit verscheucht, durch den Zug zu promenieren, eine Suppe und eine in der Mikrowelle aufgewärmte Bratwurst – Warmwurst wäre der passender Begriff gewesen – (für den Preis eines 10-Gänge-Menüs für 20 Personen) im Mitropa-Speisewagen zu uns zu nehmen. Dort erlebten wir, wie sich am Nachbartisch ein älteres Ehepaar in die Wolle bekam; da er zu seinem Geburtstag, den sie plante, einen Braten zum Buffet wollte, sie aber nicht. Sie schafften es, sich bestimmt eine Stunde lang lauthals über Braten oder nicht Braten zu echauffieren.
Am Tisch hinter mir versuchte ein krawattierter Mittdreißiger eine attraktive mitreisende Mittzwanzigern anzubaggern. Mit völlig hirnlosem Geschwalle: „Kennste die und die Band? Also deren Musik, das ist Wahnsinn. Das ist sowas von emotional (wieso ist eigentlich alles emotional, sind die Leute gefühllos geworden?), da spürt man richtig Leidenschaft. Wenn so die Gitarren und dann, wamm, das haut richtig rein … Das ist wie … also das kann man nicht beschreiben …Verstehst du? Das ist total geil, wenn …“ undsoweiterundsoweiter. Wie geschrieben, der Schmock war Mitte dreißig, nicht vierzehn! Ihre Reaktion nach einer Stunde Monolog: „Aha.“
Trotz sehr zurückhaltenden Speisens waren Suppe und Warmwurst irgendwann alle. Wir gingen zurück zu unserem Abteil und wollten ein wenig schlafen. Dort hatten sich Oma und Opa schon breitgemacht, so dass uns nur jeweils die Hälfte unseres Sitzes blieb. Wir quetschten uns in die Ecken und schlossen die Augen. Plötzlich kracht ein gewaltiger Furz. Hochfahren, Augen aufreißen – Ahja! Opa verdaut. Von Oma ein leises missbilligendes Geräusch. Die Augen wieder zu. Wieder ein gewaltiges Analdonnern. Und noch eins, und noch eins. Es ist ein wenig unangenehm, aber wir versuchen weiter einzuschlafen. „Ffffffffffhhhhhhhhhth …“ Ja guck, Oma verdaut auch. Immerhin stinkt es nicht. Aber die Lust am Schlafen war uns erst einmal vergangen.
Wir setzten uns in den Gang und spielten Backgammon. Auch das war irgendwann langweilig. Die Zeit zog sich und zog sich.
Als wir durch Belgien fuhren, hatte sich der Zug soweit geleert, dass sich endlich ein leeres Abteil fand, wo wir ungestört schlafen konnten. Meine Freundin fing irgendwann an zu Schnarchen, aber ich nickte immer nur kurz ein und wachte dann wieder auf. Als ich endlich einmal schlief, weckte mich eine laute, unfreundliche Stimme. „MORGEN! AUSWEISE!“ Ein Augenlid gelupft: Ein uniformierter Schrank steht in der Tür – seine Körpersprache lädt nicht zum Widerspruch ein. Noch halbverschlafen stell ich mich auf wackelige Beine. In dem Moment war ich mir nicht ganz sicher ob ich noch träume: „Es muss 1938 sein und der will meinen Arierausweis sehen, oder schlimmer: ein Wurmloch hat den Zug gefressen und wir haben einen Zeitsprung gemacht.“ Als ich richtig aufgestanden war, erkannte ich, dass der Schrank eine grüne Uniform anhat. Normbulle. Ich schaute ihn schlaftrunken an: „Sie müssen mich schon durchlassen.“ Fragender Blick seinerseits, „ … zum anderen Abteil, da liegt der Rucksack mit unseren Ausweisen.“ Er trat zur Seite. Ich ging und holte. Er war’s zufrieden und verschwand wortlos. Hat unsere Polizei eigentlich schon mitbekommen, dass sie Staatsdiener sind, und wir in einer Demokratie leben?